Die Einheit und die apostolische Sukzession
Exzerpt aus dem 30giorni-Interview mit Bartholomäus I. aus dem Jahre 1994:

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30giorni:
Der Papst hat als Weg der Rückkehr zur Einheit die Begebenheit der beiden Fischerbrüder , der Apostel Petrus und Andreas, vorgeschlagen. Für sie war die Einheit eine gegenseitige Nachfolge, um zu Jesus Christus geführt zu werden. Halten Sie diese Methode der Einheit für bedenkenswert?

BARTHOLOMÄUS I.:
Das Bild der beiden Fischerbrüder, Petrus und Andreas, ist gewiß bewegend und belehrend. Erlauben Sie mir aber, mich zu wiederholen: der Sinn des Lebens und die Überwindung des Geheimnisses des Todes hat nichts mit sentimentalen Gefühlen und belehrenden Bildern zu tun. Rom und die Orthodoxen haben viele geschichtliche Sünden begangen, indem sie das Ereignis des wahren Lebens in der Kirche entstellt und verfälscht haben: wir haben die eucharistische Erfahrung des Sieges über den Tod als eine religiöse, auf das Individuum zentrierte Ethik entstellt, als begriffliche Ideologie von abstrakten "Überzeugungen", und wir haben sie in Machtinstitutionen eingefaßt, die sich der Gewissen der Verunsicherten bemächtigen. Um die Einheit als Wahrheit des Lebens und Form der Existenz wiederzufinden, müssen wir unsere Sünden unsere verfestigten Entstellungen auf beiden Seiten, die das wahre Leben auf eine Ideologie, eine Verrechtlichung und weltliche Machr verkürzen, einer vor dem anderen und gemeinsam vor dem barmherzigen Herrn Jesus bekennen. Nur von einer solchen gegenseitigen metanoia aus ist es möglich, zum Realismus der Einheit als einem Leben geführt zu werden, das den Verfall des Todes nicht kennt. Ansonsten verlieren wir uns in weltlichen Opportunismen, die nur vorübergehend und auf psychologische Weise bewegen.

30giorni:
Der Papst hat daran erinnert, wenn er der Nachfolger Petri sei, so seien Sie der Nachfolger des Andreas. Das Geschehen zwischen den beiden Apostelbrüdern ruft erneut die gemeinsame Grundlage der Einheit unter den Katholiken und Orthodoxen in Erinnerung. Im ökumenischen Dialog erscheint dieser ermutigende Hinweis auf das Wesentliche immer öfter: der Glaube der Apostel und das gemeinsame Glaubensgut. Wie beurteilen Sie diese Tatsache?

BARTHOLOMÄUS I.:
Die apostolische Sukzession ist weder ein historischer Ehrentitel noch ein Anspruch "aristokratischer" Herkunft. Sie ist eine lebendige Weitergabe der Erfahrung jener, die «Augenzeugen des Wortes waren», das den aufeinanderfolgenden Generationen eingepflanzt wurde in jenen ersten Regungen des sich offenbarenden Lebens, «das beim Vater war und uns offenbart wurde» (vgl. 1 Joh 1, 2). Wir sind nicht automatisch und "natürlich" die Nachfolger von Petrus und Andreas, sondern bemühen uns, uns jeden Tag als ihre Nachfolger zu erweisen. Denn auch das Glaubensgut stellt keine ideologische Erbschaft oder theoretische Treue zu begrifflichen Formulierungen dar, sondern es offenbart sich als Ereignis und Evangelisierung des Lebens im eucharistischen Leib - soweit die Eucharistie wirklich mit der Definition der Kirche übereinstimmt und nicht zu einem sentimental heiteren und ethisch-lehrhaften "religiösen" Ritus entstellt wird.
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Quelle: Exzerpt aus 30TAGE Nr.9 1994, S.18,19, Interview mit Bartholomäus I. "Die Wahrheit liegt in den Fakten"

(PH 2013-04-17)